Skala der Ausbildung - Losgelassenheit
Wie wir jetzt bereits wissen, ist die Skala der Ausbildung nicht nur das Fundament der klassischen Reitlehre, sondern auch der Grundstein für eine harmonische Reiter- Pferd- Beziehung. Und eben genau für diese Verbindung ist die Losgelassenheit von zentraler Bedeutung.
Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) definiert die Losgelassenheit als zweiten Punkt auf der Skala der Ausbildung wie folgt: „Von Losgelassenheit spricht man, wenn das Pferd innerlich loslässt, sich zwanglos bewegt und dabei die gesamte Muskulatur des Pferdes unverkrampft mitarbeitet. Dadurch wird es erst richtig in die Lage versetzt, sich in allen drei Grundgangarten gleichbleibend taktrein und raumgreifend vorwärtsbewegen zu können, ohne im Bewegungsablauf eilig zu werden. Die Losgelassenheit ist gekennzeichnet durch regelmäßiges An- und Entspannen der Muskulatur, setzt Zwanglosigkeit voraus und beinhaltet innere Gelassenheit.“
Physische Losgelassenheit
Aber was ist dieses entspannte An- und Entspannen der Muskulatur physisch eigentlich für ein Vorgang?
Muskeln arbeiten immer paarweise zusammen: Es gibt einen Agonisten und einen Antagonisten, deren Aktivitäten unweigerlich miteinander verbunden sind. Als Agonist werden diejenigen Muskeln bezeichnet, die eine Bewegung aktiv bestimmen, durch Kontraktion ihrer Fasern also eine Beugung des verbundenen Gelenks einleiten. Der Antagonist wirkt dieser Bewegung des agonistischen Muskel entgegen und dehnt sich. Er verhilft dem kontrahierten Muskel aber auch, sich wieder auszudehnen, indem er im richtigen Moment selbst den agonistischen, beugenden Part übernimmt. Der jeweils aktive Muskel kann nur dann richtig arbeiten, wenn sein Gegenüber sich problemlos dehnen lässt, also „loslässt“. Hiermit wird deutlich, dass Entspannung nicht ohne positive Anspannung möglich ist. Physische Losgelassenheit besteht also aus einem harmonischen Wechsel von Anspannung und Dehnung, dem Loslassen, der Muskulatur.
Konzentrierte Anspannung ist zur Losgelassenheit also kein Widerspruch.
- Losgelassenheit bedeutet nicht das Gleiche wie Entspannung oder gar Schlaffheit.
- Losgelassenheit meint die Abwesenheit von negativer Verspannung und Verkrampfung.
- Losgelassenheit bedeutet Zwanglosigkeit!
Losgelassenheit gehört, wie auch der Takt zuvor, zur Gewöhnungsphase, ist also etwas, das das junge Pferd bereits am Anfang seiner Ausbildung entwickeln sollte. Beim jungen Pferd besteht deshalb mehr oder weniger die gesamte Arbeit zunächst aus lösenden Übungen, um das Gleichgewicht zu schulen. Es ist normal und leicht nachvollziehbar, dass sich das junge Pferd unter dem ungewohnten Reitergewicht zunächst verspannt. Für die Entwicklung der Losgelassenheit muss dementsprechend primär erarbeitet werden, dass das Pferd seine natürliche Unsicherheit verliert und Vertrauen zum Reiter gewinnt.
In der weiteren Ausbildung wird die Losgelassenheit zu Beginn jeder Arbeitseinheit erneut hergestellt und man kehrt auch zwischendurch immer wieder zu lösenden Lektionen zurück, eine Art der aktiven Erholung.
Da die Losgelassenheit so zentral für die gesamte Pferdeausbildung ist, wird häufig diskutiert, ob sie in der Skala der Ausbildung nicht an erster Stelle, also noch vor dem Takt stehen sollte. Tatsächlich bilden die beiden Punkte praktisch eine Einheit: Nur ein taktmäßig gehendes Pferd kann wirkliche Losgelassenheit entwickeln und Verspannungen zeigen sich häufig sofort in Taktfehlern. In der täglichen Arbeit sollte man beiden Themen die gleiche Bedeutung beimessen, Takt und Losgelassenheit entwickeln sich parallel und beeinflussen sich gegenseitig.
Mentale Losgelassenheit
Nicht nur dieses unverkrampfte Einsetzen der Muskulatur, sondern auch die mentale, die innere Verfassung ist entscheidend für die reelle Losgelassenheit des Pferdes und dessen Beziehung zu seinem Reiter.
Das junge Pferd, welches die erste, natürliche Unsicherheit überwunden hat, muss gerne mitarbeiten, sich auf den Reiter einlassen, kooperativ und motiviert sein und sich auf die Arbeit konzentrieren.
Neben den charakterlichen Eigenschaften eines jeden Pferdes ist dieses wesentlich vom Verhältnis zu seinem Reiter,- und den Menschen, die darüber hinaus regelmäßig mit dem Tier umgehen,- beeinflusst. Wenn das Pferd seinen Menschen voll und ganz vertraut und sie akzeptiert, wird es auch unter schwierigen Bedingungen und in ungewohnter Umgebung schnell zu Losgelassenheit finden und sich auf die Arbeit konzentrieren.
Diese Lern- und Leistungsbereitschaft, die zu Losgelassenheit führt, wird auch durch abwechslungsreich gestaltetes Training und eine artgerechte Haltung gefördert. Das richtige Maß zwischen konzentrierter Arbeit, spielerischem Training wie Ausritte etc und freier Bewegung schaffen einen “freien Kopf” und Vertrauen.
Dieser freie Kopf, die mentale Losgelassenheit, kombiniert mit der durch korrekte Arbeit ausgebildeten physischen -, bildet dann das Gesamtpaket, um eine sichtbare Bewegungsharmonie von Pferd und Reiter zu schaffen, ein Reiter der auf dem Pferd zum “Sitzen“ und Treiben kommt.
Ein festes Zeitmaß zum Erreichen der täglichen Losgelassenheit lässt sich nicht angeben, da wir natürlich, wie immer, ganz individuell auf die verschiedenen Bedürfnisse unserer Pferde eingehen. Junge Pferde sowie auch ältere, schon etwas steife Tiere brauchen länger, als ein voll im Training stehender Sportler. Ein Pferd, das von Weide oder Paddock kommt, oder schon irgendeine andere Bewegung zurückgelegt hat braucht meist eine nicht ganz so lange Lösungsphase, wie ein Pferd, welches direkt aus seiner Box kommt. Ein von Natur aus sehr gelassenes Pferd wird sich auch unter dem Reiter schneller entspannen, als ein nervöses oder guckiges Tier. Natürlich spielen nicht zuletzt auch die Fähigkeiten des Reiters eine große Rolle: Ein ausbalancierter Sitz, die richtige Einwirkung zur richtigen Zeit und ein gutes Gefühl für das passende Tempo machen es dem Pferd leicht, zur Losgelassenheit zu kommen
Welche Übungen nutzt du, um Takt und Losgelassenheit zu fördern und an welchem Punkt fließt der Punkt der Anlehnung bereits in die Ausbildung ein?